Der Patrizier
Als der Patrizier die Tür öffnete, sah er den Schlamassel. Er rümpfte sich die Nase, obwohl sein Geruchssinn kaum weit Bekanntheit erlangt hat. Ausserdem geht von dem Schlamassel auch kaum ein Gestank aus. Trotzdem war er ein professioneller Nasenrümpfer. Und ein leidenschaftlicher obendrauf. Gerne rümpfte er sich die Nase zwei bis dreimal pro Stunde. Einfach damit sie gerümpft war. Der Patrizier konnte so auch dieses Kitzeln, das er immer am einen Nasenflügel hatte, loswerden. Sein Nasenrümpfen war so perfektioniert, dass er beide Seiten einzeln, aber auch beide gleichzeitig rümpfen konnte. Also rümpfte sich der Patrizier völlig sinnlos die Nase, als er vor dem Schlamassel stand. Er hatte eine fassungslose Miene aufgesetzt, ohne wirklich etwas zu fühlen. Es war ihm herzlich egal. Aber als Patrizier musste er sich natürlich schockiert zeigen. So etwas geht doch nicht. Das ist doch die Höhe. Aber der Patrizier hat schon viele Schlamassel gesehen. Und dieser war nicht besonders schlamasseliger als andere. Er setzte sich in der Mitte des Schlamassels auf den Boden, immer noch mit fassungslosem Gesichtsausdruck, und sah sich den Schlamassel genauer an. Die kaputte Vase und den Goldfisch, der neben dem Aquarium schlief, zum Beispiel. Seine Gefühlslage war weiterhin kalt. Er stellte fest, wie sein Bein anfing zu zittern, als wenn er nervös wäre. Dies beobachtet er immer bei anderen Menschen im öffentlichen Verkehr und es treibt ihn zur Weissglut. Aber jetzt tat er es plötzlich selber. Mit seiner Hand schlug er sich das Bein, wie wenn er sich tadeln würde. Und dann schämte er sich, weil das ja eine sinnlose Aktion gewesen sei. Aber der Patrizier war ja allein, wieso sollte er sich für irgendetwas schämen müssen. Der Schlamassel war ihm mittlerweile ziemlich egal geworden. Er hatte den Drang mit den Schultern zu zucken, widerstand aber. Er blieb einfach sitzen. Mittendrin. Und dachte sich nicht viel dabei. Also, er dachte schon viel. Aber nicht darüber. Sondern einfach so.

Als der Pförtner die Tür öffnete, sah er den Patrizier und den Schlamassel. Der Pförtner wunderte sich, weil er ja eigentlich der einzige mit einem Schlüssel ist. Und er erinnerte sich noch genau daran, wie er gestern die Türe selber abgeschlossen hatte. Und als er sie heute öffnete, öffnete er sie zum ersten mal am heutigen Tage. Wie also konnte der Patrizier in den Raum mit dem Schlamassel, ohne dass er ihm die Türe aufgesperrt hätte. Das war sein erster Gedanke. Sein zweiter Gedanke behandelte den Schlamassel, war aber völlig wertungsfrei. Er hat ihn nicht überrascht, aber erwartet hätte er ihn noch weniger. Er war einfach da, wie eine Spinne in der Badewanne. Sein fachmännischer Blick wusste den Schlamassel sofort einzuschätzen. Der Patrizier machte ihm mehr zu schaffen. Dieser schaute ihn fassungslos an und bewegte keinen Muskel. Der Pförtner schaute musternd zurück. Er versuchte in seinen Blick die Frage zu legen, wie er hier hereingekommen ist und erinnerte sich an die Zeit in seiner Hobby-Theatergruppe zurück. Dem Pförtner fiel es schwer, etwas zu sagen. Er wusste nicht, ob er freundlich oder misstrauisch sein soll. Seine Spezialität wäre eher brummig harsch gewesen, aber um so zu reagieren, waren bereits zu viele Sekunden vergangen, seit der Pförtner den Patrizier und den Schlamassel entdeckt hatte. Also sagte er nichts. Das war auch am einfachsten. Er machte sich auf geradem Weg zum schlafenden Goldfisch, den er mit einer lässigen Bewegung wieder in das runde Aquariumglas legte. Der Fisch jedoch drehte sich auf die Seite und blieb an der Oberfläche kleben. Der Pförtner schaute ihm dabei misstrauisch zu, der Patrizier war weiterhin fassungslos. Ihre Blicke trafen sich wieder, weiterhin wurde nicht kommuniziert. Weil der Pförtner bereits etwas älter war und nicht mehr auf den Boden sitzen konnte, nahm er sich einen Campingstuhl, der irgendwo im Schlamassel herumlag und setzte sich direkt neben den Patrizier. Im Stillen waren sich beide einig, dass es besser ist, nichts zu sagen. Der Pförtner wunderte sich darüber, dass der Patrizier hier drin ist und der Patrizier betrachtete mit einer aufgesetzt fassungslosen Miene wahrnehmungsvoll den Schlamassel.

Als der Schlosser die Tür öffnete, sah er den Pförtner, den Patrizier und den Schlamassel. Er war aufgelöst, über den Status dieses Raumes. Er fühlte sich, als ob er aufschreien müsste. Aber er liess es nicht zu. Quasi als ob ihm eine Heiserkeit die Stimmbänder zuband, noch bevor er überhaupt seinen Mund aufmachen konnte. Er war erzürnt. Und auch schon fast etwas empört. Über den Schlamassel und den Zustand dieses Raumes. Obwohl er ihn noch nie betreten oder von innen gesehen hat. Auch wenn der Schlosser ein neugieriger Mensch war und durchaus beruflicher Natur die Möglichkeit hatte, die Tür zum Raum mit dem Schlamassel zu öffnen, hat er das nie getan. Das grosse Schild mit der Aufschrift Streng geheim! hat ihn immer davon abgehalten. Dafür war er zu gut erzogen. Als Schlosser gehört es zum Ehrenkodex, niemals eine Türe zu öffnen, die man nicht befugt ist zu öffnen. Gewalt ist ausserdem nie eine Lösung. Und trotzdem hat der Schlosser heute diese Sünde begangen. Er wusste nicht genau, was in ihn gefahren ist. Aber, so redete er es sich ein, die Türe war ja nicht abgeschlossen. Denn der Pförtner hat sie ja vorhin aufgemacht. Beziehungsweise nicht der Pförtner – denn der hat ja auch eine offene Türe vorgefunden – sondern eben irgendwie der Patrizier. Und so schwiegen sich die Herren gegenseitig an. Die Augen des Schlossers wanderten abwechslungsweise vom Patrizier zum Pförtner zum Schlamassel. Seine Rage wurde immer bedeutsamer. Er ging im Raum mit dem Schlamassel umher, sah sich, nach wie vor wortlos, um, nahm einige Gegenstände in die Hand und legte sie wieder auf ihren Platz. So musterte er nacheinander die Salzmühle, die kaputte Kuckucksuhr, die Autobiographie von Hella von Sinnen mit einigen herausgerissenen Seiten, den Flaschenöffner neben dem leeren Feuerlöscher und den schlafenden Braunbären bei der güldenen Karaffe. Auch er nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben den Pförtner und den Patrizier. Nun war er nicht mehr so aufgebracht. Er schaute über den Rand seiner Brille zuerst den Pförtner an, dann den Patrizier, der ihn mit einem aufgesetzt fassungslosen Blick anschaute. Keiner sagte ein Wort. Die Stille war greifbar. Der Patrizier rümpfte sich erneut die Nase. Ein leichtes Beissen an seinem rechten Nasenflügel trieb ihn zur Weissglut. Der Pförtner setzte eine gespielt ruhige Miene auf und der Schlosser machte einen geräuschlosen Seufzer.

Als der Geheimdienst die Tür öffnete, sah er den Schlosser, den Pförtner, den Patrizier und den Schlamassel – und zeigte sich überrascht.

DB, Januar-März 2019